U. Haefeli: Verkehrspolitik und urbane Mobilität

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Titel
Verkehrspolitik und urbane Mobilität. Deutsche und Schweizer Städte im Vergleich 1950-1990


Autor(en)
Haefeli, Ueli
Reihe
Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung 8
Erschienen
Stuttgart 2008: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
380 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Hans-Ulrich Schiedt, Inventar historischer Verkehrswege der Schweiz IVS Forschungsstelle, Universität Bern

Ueli Haefeli, Historiker und Verkehrsplaner, universitärer Lehrer und Mitinhaber einer renommierten Planungsunternehmung, analysiert in seiner Berner Habilitationsschrift die regionalen und lokalen Verkehrsprobleme und deren Bewältigung im Zeitraum zwischen 1950 und 1990. Dabei greift er Bern, Basel und Zürich in der Schweiz und Bielefeld, Münster und Freiburg in Deutschland heraus, mit jeweiligen Schwergewichten auf Bern und Bielefeld. Methodisch handelt es sich bei der Studie um einen (internationalen) Vergleich. Dies verdient einen besonderen Hinweis, weil Haefeli dieses heute verbreitete Postulat wissenschaftlicher Umsicht in beispielhaft guter Weise einlöst. Hier werden nicht Äpfel mit Birnen verglichen, sondern in unaufgeregter, gebildeter Weise Begriffe geklärt, Fälle aufgearbeitet und Resultate verglichen. Dabei gehören die kurze, aber kenntnisreiche Darlegung der Rahmenbedingungen, die Beschreibung der Akteurgruppen und der Verkehrsdiskurse zum Besten, was die aktuelle Verkehrsgeschichte zu bieten hat. Solche Vergleiche sind nicht zuletzt auch ein probates Mittel gegen die hierzulande vorschnelle Identifikation von Sonderwegen und Sonderfällen. Der Autor fördert viele Parallelitäten und Ähnlichkeiten zutage, aber auch einige interessante Differenzen.

Haefeli konstatiert am Ende des von ihm gewählten Zeitraums, um 1990, zwischen den Städten grosse Unterschiede bezüglich des Autoanteils im Verkehr: etwa hinsichtlich der Anzahl der Wege, von denen in Bielefelds Stadtverkehr beispielsweise 59 Prozent im motorisierten Individualverkehr zurückgelegt werden, in Bern aber nur 37 Prozent. Weitere wichtige Differenzen sind die in den Schweizerstädten bedeutend geringere PKWDichte und die gleichzeitig deutlich häufigere Benützung des öffentlichen Verkehrs. Diese Unterschiede seien nach den gängigen verkehrswissenschaftlichen Kriterien wie «Bevölkerung, Stadtgestalt oder Einkommen und Preise im Verkehr» (18) nicht zu erklären. Der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage liegt nach Haefeli einerseits in einer Abkehr von der verbreiteten Auto - Fokussierung – er verneint dabei die überragende Bedeutung der Massenmotorisierung in diesem Zeitraum nicht – und andererseits in einer besonderen Thematisierung der Wechselwirkungen von Angebot und Nachfrage. Neben dem Verkehr wird hier der Begriff der Mobilität zum wichtigen Zusammenhang: «Mobilität bezeichnet […] die Möglichkeit zur physikalischen Raumüberwindung, während Verkehr realisierte Ortsveränderungen umfasst» (16), «Mobilität als Handlungsoption und Verkehr als deren Realisierung» (297).

Am Anfang des beobachteten Zeitraums werden in den sechs Städten trotz der unterschiedlichen Kriegsfolgen durchaus ähnliche Mobilitätssysteme identifiziert, bei einer verkehrspolitischen Verfassung beider Länder, in der die Parallelitäten bei Weitem überwogen, während er am Ende, um 1990, Unterschiede feststellte, «welche 1950 wohl noch niemand für möglich gehalten hätte» (302). Diese Differenz ist nun aber nicht unbesehen allgemein auf die Schweiz respektive auf Deutschland zu beziehen, sondern nur auf die Städte und auf die radial auf diese hin- oder von diesen wegführenden Wege. Bei der Analyse der Differenzen kommt Haefeli zum Schluss, dass im Zeitraum der Massenmotorisierung in den schweizerischen Städten sowohl ein bezüglich Effizienz und Effektivität als auch hinsichtlich ökologischer Belange vorteilhafteres Mobilitätssystem als in den deutschen Städten entstand (303).

In der Fallstudie geht Haefeli diesen Prozessen nach, anhand von Bern beispielsweise der zunehmenden Dominanz der Automobile, dem Infrastrukturausbau nach dem Prinzip der Verkehrstrennung, der Entwicklung von der euphorischen Zustimmung zum Autobahnbau, der Expressstrassenplanung, dem Scheitern dieser Konzeption der sogenannten Innenstadttangenten in den 1960er - Jahren zur umweltpolitischen Wende um 1970 und nach dieser zu den vielen verkehrspolitischen Vorlagen der 1980er – und 1990er - Jahre. Der in diesem Zeitraum vollzogene verkehrspolitische Wandel war tief greifend. Nicht gleich fundamental änderten sich jedoch die Vorzeichen bei der Verkehrsentwicklung selbst. Trotz der vielfachen Förderung des öffentlichen Verkehrs «ging de facto der Vormarsch des Autos weiter» (179).

Interessant sind die Gründe für die wachsende Differenz zwischen den ausgewählten Städten, Gründe, die Haefeli wegen des durchaus ähnlichen Ausgangspunkts im untersuchten Zeitraum der vier Nachkriegsjahrzehnte selbst verortet – und wesentlich ausserhalb verkehrsinhärenter Zwangsläufigkeiten findet. Er sieht durchaus wirtschaftliche, raumstrukturelle und akteurbezogene Faktoren, die allerdings alle die unterschiedlichen Entwicklungen nicht genügend zu erklären vermögen. Gerade die vielfältigen wirtschaftlichen Wirkungszusammenhänge bieten eine unsichere interpretatorische Basis, indem in beiden Ländern bei steigenden Haushaltseinkommen unterschiedliche Entwicklungen der Motorisierungsraten eintraten. Hier überlagerten andere Einflüsse die ökonomischen Preis-, Einkommens- und Nachfragemechanismen.

Neben all den Fakten und Interpretationen, die Haefeli ausbreitet, ist es nicht zuletzt auffallend, wie wenig sich verbreitete Erklärungsansätze oder gar Gewissheiten wie etwa «die stärkere Verbundenheit der Schweizer Bevölkerung mit dem öffentlichen Verkehr» auch wirklich in überzeugenden Argumentationslinien nachweisen lassen. Wichtiger sei auf jeden Fall gewesen, dass in den schweizerischen Städten die Mittel zur vom Volk gewünschten baulichen Zementierung der Autodominanz in den 1950er - und 1960er -Jahren knapper waren, was dazu führte, dass das Angebot des öffentlichen Verkehrs noch grösser war, als die verstopften Strassen und das gewandelte umweltpolitische Bewusstsein die Nachfrage steigerten – die Liebe zum ÖV nicht als Ursprung, sondern als erst später sich ergebende «positive Rückkoppelung» (309). Die Differenz bestand in den unterschiedlichen finanziellen Anreizen durch die jeweilige Bundespolitik, die in Deutschland stärker waren, aber gleichzeitig den Handlungsspielraum der Kommunen einschränkten. Sie hatten neben einzelnen Fehlinvestitionen allgemein eine geringere Effizienz des Verkehrssystems zur Folge (306f.). Auf der anderen Seite liessen die halbdirekte Demokratie und die Mechanismen des Föderalismus in der Schweiz weder eine kohärente, die Städte einbeziehende, langfristige Planung zu, noch ermöglichten sie eine Finanzierung der Bewältigung der städtischen Verkehrsprobleme.

Haefeli kleidet sein abschliessendes Fazit in die Form einer Frage: «Stehen wir also vor der paradoxen Situation, dass sich das deutsche System […] kurzfristig als leistungsfähiger erwies, dass sich diese Vorteile aber langfristig in ihr Gegenteil verwandelten? » (314). Die dadurch erreichte Indifferenz ist Haefelis Ausweg in einem Forschungsfeld, in dem es noch viel zu tun gibt. Haefeli legt dazu eine gute, nach vielen Seiten hin offene, anregende Basis. Sie kann zur Lektüre nur empfohlen werden.

Zitierweise:
Hans-Ulrich Schiedt: Rezension zu: Haefeli, Ueli: Verkehrspolitik und urbane Mobilität. Deutsche und Schweizer Städte im Vergleich 1950 – 1990. Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung, Bd. 8. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2008. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 74 Nr. 1, 2012, S. 54-56.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 74 Nr. 1, 2012, S. 54-56.

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